Vor 80 Jahren, am Morgen des 10. Novembers 1938, brannte in der Reichspogromnacht auch die Ruppichterother Synagoge. Welche schrecklichen Szenen sich damals im Oberdorf abspielten, erzählen die Juden Melitta Hess und ihr Sohn Walter. Foto: Nach dem Brandanschlag vom 10. November 1938 – heimlich fotografiert vom Ruppichterother Feuerwehrmann Werner Heinrichs aus seinem Haus gegenüber in der Wilhelmstraße [Bilderbuch Ruppichteroth]
Es ist ein einmaliges Zeitzeugnis, dass der Heimatforscher Wolfgang Eilmes entdeckt hat. Bei den Recherchen für sein neues Buch, das Mitte November erscheinen soll, stieß er auf die Familie Hess. Ein Teil von ihr entkam den Nationalsozialisten und flüchtete in den New Yorker Stadtteil Washington Heights. Dort waren in den 1930er Jahren rund 20.000 Juden aus Deutschland untergekommen.
1987 interviewte der Regisseur Manfred Kirchheimer für einen Film viele von ihnen. Zu den besonders ausführlich Befragten gehörten auch drei ehemalige Ruppichterother Bürger, die in der Wilhelmstraße wohnten: Melitta Hess, ihr Sohn Walter (früher Wolfgang) und Ilse Kaufmann, geborene Gärtner.
Das erzählen Melitta und Walter Hess
Walter Hess: (Anm.: Der Polizist) Laddach erschien wieder an der Türe und sagte: „Melli, du mußt mitkommen und die Kinder.“ Die Knie meiner Mutter zitterten und sie fiel zu Boden. Laddach und meine Großmutter halfen ihr aufzustehen. „Sie wollen euch an der Synagoge haben. Sie wollen nur ein paar Fotos machen.“
Melitta Hess: Als das Feuer brannte, haben sie uns - mich, die drei Kinder und meine Schwiegermutter - vor die brennende Synagoge gestellt. Einige von ihnen riefen: „Verbrennt sie, tötet sie.“
"Wartet nur, ihr werdet auch verbrennen"
Walter Hess: Es war die Möglichkeit für einen Schnappschuss. Sie haben uns vor die brennende Synagoge gestellt und Fotos gemacht. [..] Ich muss sagen, dass ich viele Leute in der Menge gesehen habe, die aus dem Dorf waren. Da waren Kinder, von denen ich dachte, sie wären meine Freunde gewesen, die Spielkameraden von mir waren, die nun Dreckklumpen auf uns warfen. Für mich war es der traumatisierendste Tag meines Lebens. Den Ort zu sehen, den du liebst und wo du deine Wurzeln hast ... und plötzlich ist alles auf den Kopf gestellt. Zwei SS-Männer standen hinter den Leuten und als die Blitzlichter aufleuchteten, begannen sie, uns zuzurufen: „Wartet nur, ihr werdet auch verbrennen. Wartet nur, wartet nur.“ Sie lachten und schauten sich an, als ob sie gerade einen tollen Witz gemacht hätten.
Melitta Hess: Schließlich ließen sie uns gehen. Aber mein Schwiegervater ging in die brennende Synagoge und holte die Torahs heraus. Er brachte sie in unser Haus und stellte sie auf den Tisch. Dann kamen einige Nazis und nahmen die älteren (Anm.: jüdischen) Männer mit nach draußen.
Walter Hess: Jemand sagte uns später, dass die alten Männer durch alle Straßen des Dorfes marschieren mussten und dass die SA-Männer dabei riefen „linker Fuß, rechter Fuß“. Dabei lachten sie und hatten Spaß. Dann mussten die alten Männer und Opa vor der Synagoge stehen, wo ein Feuer angerichtet worden war und unter dem Anblick von auf sie gerichteten Gewehren mussten sie die Bücher und die Torahs ins Feuer werfen.
Melitta Hess: Es war schrecklich.
Oskar Hess wurde deportiert
Melittas Mann, Oskar Hess, wurde noch am selben Tag im Gefängnis in Schönenberg inhaftiert und über Köln in das Konzentrationslager Dachau transportiert. „Zu dieser Zeit war es noch das Ziel der Nazis, Deutschland judenfrei zu machen. Das Ziel der Vernichtung des gesamten jüdischen Volkes wurde erst später verfolgt“, erklärt Wolfgang Eilmes. Daher versuchte man, die Juden zur Ausreise zu bewegen, was aber für diese zunehmend schwieriger wurde, da die aufnehmenden Länder nur bestimmte Kontingente pro Jahr erlaubten und dies dann noch unter oft sehr strengen Bedingungen.
So brauchte man für die Einreise in die USA zum Beispiel einen Bürgen oder 25.000 US-Dollar, was in etwa einem Betrag von 300.000 US-Dollar in den 1990er Jahren entsprach. Mit Hilfe einer wohlhabenden Tante in Holland erhielt Oskar Hess die Zusage für ein Visum für Ecuador und wurde dadurch nach etwa sechs Wochen aus Dachau entlassen.
Die Rückkehr des Vaters
Über die Rückkehr des Vaters erzählt Walter Hess:
Meine Mutter nahm meinen Bruder und mich an einem Freitagmorgen zum Bahnhof. Papa stieg aus dem Zug. Sein Gesicht war rund und dick. Er war kahl geschoren. Seine wunderbaren schwarzen Haare waren abrasiert. Er war ein Vater, wie ich ihn nie gesehen hatte. Wir standen ihm gegenüber. Seine Hände zitterten. Mein Bruder und ich schauten zu ihm hin, aber er schaute nicht zu uns. Was er sagte, war nur an Mutter gerichtet: Wann kann ich weggehen? Sind meine Papiere in Ordnung? Dachau hat ihn verändert.
Danach hatte er immer Angst. Eine Woche später verließ Oskar Hess Ruppichteroth für immer, zuerst nach Holland, um das Visum für Ecuador zu erhalten. Ehefrau und Kinder durften einige Tage später nachreisen. Von Holland ging es dann nach Panama, Ecuador und schließlich nach New York. Opa Moses Hess und seine Frau Henriette blieben zurück in Ruppichteroth. Sie glaubten immer noch, dass in Deutschland wieder „alles gut werden“ würde. Sie wurden am 16.07.1943 (Moses) und am 20.06.1944 (Henriette) im Ghetto Theresienstadt ermordet.
Schweigemarsch in Ruppichteroth
Als Mahnmal wird es am Freitagabend, 9. November, einen Schweigemarsch zum jüdischen Friedhof geben. Beginn ist um 19:30 Uhr an der evangelischen Kirche mit einem Gottesdienst.
Kommentare
Ben Höhner
November 10, 2018 um 5:21 pm
Super Artikel! Wichtig auch an die dunklen Geschichten von Ruppichteroth zu erinnern. Danke dafür auch an Wolfgang Eilmes, für die gute Recherche!
Marco Feiten
November 9, 2018 um 3:45 pm
Vielen Dank, lieber Wolfgang, dass du dafür sorgst, dass diese schockierenden und bewegenden Berichte nicht vergessen werden können. Und zugleich bin ich froh, dass Ruppichteroth nun auch Stolpersteine bekommt, die ein weiteres deutliches Zeichen der Erinnerung setzen.